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Der Küher von Gaffia

Vor ein paar hundert Jahren lebte in Bayern eine gottlose Räuberbande. Der verwegene Haniggel war der Hauptmann dieser raubsüchtigen Banditen. Als sie immer frechere Ueberfälle wagten, bot man Truppen auf, um die Räuber zu fangen. Aber die Wegelagerer kannten sich besser aus in den Wäldern und Bergen als die Soldaten. Erwischt wurden sie nicht - aber sie mussten fliehen. Schliesslich kamen sie ins Sarganserland. Hier gab's genügend Unterschlupf in Wäldern und Alpen.

Zu diesem Zeitpunkt trieben die Küher ihre Tiere von der Alp Gaffia auf den Kamm hinauf. Der schwere Morgentau lag noch silbern auf Gras und Kraut. Meistersenn und Handbub blieben beim Vieh, und der Zusenn musste wieder in die Alphütte zurück. Auf den Mittag sollte er ihnen das Essen bringen. Es war ein strahlender Sommertag. Schön war's da oben. Die Herde graste friedlich; da und dort legten sich die Kühe in den Schatten, gemächlich ihr Futter wiederkäuend. Die beiden Sennen hatten rechtschaffenen Hunger. Warum kam denn Jakob, der Zusenn, nicht mit dem Mittagessen? - So gegen drei Uhr erklärte Grünenfelder, der Meistersenn: nid chumma. "Du, mir wird's zu langweilig. Ich will einmal nachsehen, warum er nicht kommt. Es muss etwas Unrechtes geschehen sein, sonst wäre der Zusenn schon lange wieder da. Ich bringe dir dann etwas zu Essen. Wenn ich aber nicht mehr kommen sollte, trebst du das Vieh allein zusammen, nicht wahr?"

Nach diesen Worten läuft er raschen Schrittes talab. Von weitem schon sieht er dicken Qualm aus der Hütte steigen. Da muss etwas nicht nicht stimmen. Beim Näherkommen hört er lärmen und rumoren. Vorsichtig schleicht Grünenfelder näher. Auf der Hinterseite der Hütte ist ein Steinmäuerchen; da klettert er hinunter und kann zu einer Spalte hineinsehen. Die Hütte ist voller unheimlicher Kerle mit wildverbarteten Gesichtern und breitrandigen Gupfhüten.... Fluchend und lachend holen sie Butter und Käse aus dem Keller. Einer ist um einen Kopf grösser als die andern. Breit wie eine Wettertanne steht er mitten in der Hütte. Sein Gurt ist vollgesteckt mit Revolvern und einem Dolch. Rauh und knarrend ist seine Stimme. Allmächtiger Gott, was bedeutet das? Das mächtige Kupferkessi hängt über dem Feuer. Die Schotte strodelt über den Rand, dass es zischt und raucht. Fast will der Meistersenn seinen Augen nicht trauen - aber es ist so. Da hängen ja Beine aus der siedenden Schotte! Der Patzger, der Jakob! In seinem Grimm und Schmerz wäre der starke Senn am liebsten in die Hütte gerannt.

Aber was wollte ein einzelner Mann ausrichten gegen diese Horde? Behend wie eine Natter schleicht er an den Stall, wo er seinen Bürchel, ein kleines Alphorn, versorgt hat. Wiesenflink renn er nach dem Tschingel hinauf. Keiner der Raumgesellen hat ihn bemerkt. Und auf dem Tschingel, da wo man nach Wangs hinuntersieht, fängt er an zu blasen. Sein Puls jagt, er kommt noch kaum zum Atmen, aber er bläst. In langgezogenen Stössen, genau wie das Feuerhörnchen des Nachtwächters, lässt er seinen Bürchel um Hilfe rufen.

Im Tal hören Sie den wildbangen Hilferuf. Ein Bauer ruft die Leute zusammen. Bewaffnet eilen sie bald den Weg nach Gaffia hinauf. Noch bevor die Sonne hinter dem Garmil versinkt, sind sie schon auf dem Stoffel. Merkwürdig, alles ist totenstill. Kein Mensch herum. Die Hüttentür sperrangelweit offen. Ein toter Bandit liegt auf dem Boden und in der Schotte der Patzger Jakob, kaum mehr erkenntlich. Die Bauern wissen; das muss die Räuberbande des Haniggels gewesen sein, von der in letzter Zeit allerlei Gerüchte herumgingen.

Ein Schellen und Glöckeln, der Handbub kommt mit der ganzen Viehhabe vom Kamm herunter. Er hat keine Ahnung von dem grausigen Geschehen. Wo mochte Grünenfelder, der Meisersenn sein? Er und kein Anderer hatte den Bürchel geblasen. Nach langem Suchen fanden sie ihn auf dem Tschingel - tot! Noch hilet er sein aus Rinde gewundenes Horn in der Hand, in das er all mit seinen Kräften geblasen, bis ein Blutsturz seinem jungen Leben ein Ende setzte. Rot waren Erde und Gras, wo der wackere Küher sein Leben in treuer Pflichterfüllung gelassen hatte.

Seither wird alle Jahre in der Jakobinacht ein Feuer entzündet auf dem Tschingel zum Gedenken an den getreuen Sennen. Die Räuberbande floh bald wieder über den Rhein. Ihr unstetes, sinnloses Leben dauerte nur noch wenige Jahre, dann endeten sie am Galgen.

Aus einem alten SJW-Büechli "Geschichten aus dem Sarganserland" von Willi Gantenbein